Reisen als eine weitere Form geistlosen Konsums?

📍Türkei, 11.000 km


Ich reise, also bin ich?

Vor 1.5 Jahren sind wir aufgebrochen. Wir haben alles hinter uns gelassen für eine Reise um die Welt - mit unserem Fahrrad. Wir dachten, dass uns diese Reise Antworten und Lösungen liefern würde. Doch stattdessen stellen wir uns immer mehr Fragen. Was nicht schlecht sein muss, ganz im Gegenteil. 

 

Reisen wird oft und von vielen als Allheilmittel angesehen. Sei es der Urlaub, auf den man sich wochen- und monatelang freut. Oder die längere Reise, für die man lange spart. Oder die Weltreise, die nie enden soll und für die nach alternativen Einkommensquellen wie YouTube, Affiliate-Links, Produktplatzierungen und Online-Kursen Ausschau gehalten wird. Für viele ist es die Antwort auf das Unglücklichsein, der Weg zur Freiheit, der Schritt aus dem Hamsterrad.

 

Reisen war noch nie so einfach wie heute (vorausgesetzt, man befindet sich in der privilegierten Position). Google Maps zeigt uns den Weg, Bewertungen helfen bei der Entscheidung, YouTube und Instagram liefern die Inspiration, Online-Übersetzer sprechen für uns, Couchsurfing.com vermittelt uns lokale Erfahrungen und für alle weiteren Fragen gibt es unzählige WhatsApp-Gruppen. Aber ist das Reisen, egal ob Wochenendtrip oder eine Weltreise ohne Verfallsdatum, nicht letztlich auch eine Form des Konsumzwangs? Wir sehen es bei anderen. Wir machen es ihnen nach. Wir stellen sicher, dass es Beweise davon gibt. Und dann erzählen wir es allen. Ist es überhaupt passiert, wenn es nicht eine Aufnahme davon gibt? 

 

Am Ende des Tages frage ich mich: Würden die Menschen diese Geschichten auch erleben wollen, wenn niemand davon wüsste? Würden sie diese Reisen auch machen, wenn sie keine Kameras dabei hätten? Würden sie diese abenteuerlichen Strapazen auch auf sich nehmen, wenn sie niemandem davon erzählen dürften? Würden wir es tun? Würdest du es tun?


"Was mache ich für mich und was mache ich für Social Media?"

Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Default Einstellung in meinem Kopf bereits auf “Geschichte erzählen” statt auf “Geschichte erfahren” eingerichtet ist. Das war früher nicht so. Gerne würde ich wieder wissen, wie es ist, zu reisen, ohne sofort daran zu denken, es anderen zu erzählen. Welche Entscheidungen würde ich treffen? Wie würde ich mich fühlen? Wer wäre ich, wenn mich niemand beobachten würde? Was geschieht wirklich aus innerem Antrieb und wo mache ich mir etwas vor? Was mache ich für mich und was mache ich für Social Media?

 

Ich muss auch an die Erzählung des kleinen Prinzens denken, in der es den Erwachsenen nur um Zahlen geht, und mir wird klar, dass es in der romantischen Welt der Landzeitreisenden oft nicht anders ist. Auch hier geht es schnell um die Anzahl der besuchten Länder, der gefahrenen Kilometer, der Views ihrer Reels und YouTube Videos, der Follower oder der gesparten Euros dank niedriger Lebenshaltungskosten in wirtschaftlich schwächeren Ländern. Inwieweit sind diese Reisenden wirklich freier? Ich wage die These aufzustellen, dass viele Menschen unterwegs nicht wirklich anders motiviert sind als die Menschen daheim. Der Unterschied ist vielleicht, dass die Menschen unterwegs gerne denken, dass sie "ganz anders" sind. 

 

Reisen als eine weitere (vielleicht romantischere) Form geistlosen Konsums


Versteht mich nicht falsch. Ich glaube immer noch, dass Reisen an sich eine sehr gute Sache sein kann. Ich glaube auch, dass mich Reisen zu einem besseren Menschen gemacht hat. Ich würde immer wieder mit dem Fahrrad aus Berlin in Richtung Thailand losfahren. Aber ich möchte aufhören, mir vorzumachen, dass unsere Art des Reisens automatisch ein Schritt aus dem Konsumhamsterrad ist. Davon bin ich, wenn ich ehrlich zu mir bin (trotz Drahtesel, Zelt und Low-Budget-Lifestyle) weit entfernt. Denn Reisen kann auch schnell zu einer Art geistlosem Konsum werden. Man sieht es nur nicht auf den ersten Blick. Doch wenn wir hinter die romantische Fassade der unzähligen Fotos und Videos im World Wide Web blicken, sehen wir, dass der Mensch sich unterwegs nicht unbedingt verändern muss. Wir sind immer noch die gleichen, ob in unseren Jobs in Berlin oder auf dem Rad in der arabischen Wüste. Letztendlich schmücken wir uns mit unseren Geschichten wie andere Menschen mit ihren Gegenständen und Karrieren, oder etwa nicht? Und wir wollen immer mehr und mehr davon - schneller, höher, weiter. 

 

Na ja, wir sind vielleicht auch einfach nur zwei weitere privilegierte Mensch, die wie alle anderen versuchen, in einer turbokapitalistischen Welt glücklich zu werden.

 


 

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