Ohne Geld um die Welt?

📍Irak, Kurdistan, 10.035 km unterwegs


Privilegiert. Wohlhabend. Und trotzdem ohne Geld um die Welt?

Alle reden über die Gastfreundschaft auf der Straße. Wie nett die Menschen sind und einen ganz selbstverständlich zu sich nach Hause einladen, für einen kochen und die Taschen mit Leckereien füllen. Auf Instagram und YouTube prahlen Hitchhiker damit, dass sie in einem ganzen Jahr in über 30 Ländern nur €1500 (oder weniger) ausgegeben haben - nach dem Motto „How to travel the world with no money“. In WhatsApp-Gruppen feiern sich Radreisende dafür, dass sie ein Monat im Iran nur 100€ gekostet hat, weil Einheimische sie ständig beschenkt und/oder eingeladen haben. Privilegierte wohlhabende Tourist:innen aus Europa, die online dafür bewundert werden, dass sie in einkommensschwachen Ländern auf Kosten anderer leben und deshalb mehrere Jahre lang um die Welt reisen können. 

 

Und das gibt uns nach mehr als einem Jahr Weltreise mit dem Fahrrad immer mehr zu denken, denn natürlich haben wir auch hier und da von der Großzügigkeit der Menschen profitiert. Die schönsten Geschichten waren die Stunden und Tage mit und bei Menschen daheim. Doch wie schmal ist der Grat zwischen bescheidener Dankbarkeit und egoistischer Schnorrerei. Wenn wir im Internet sehen, wie Menschen auf Kosten von (meist weniger privilegierten) Einheimischen in Entwicklungsländern eine Low-Budget-Reise ermöglichen und diesen Traum dann online unter dem Deckmantel "Jeder kann eine Weltreise machen" verkaufen, wird uns ehrlich gesagt schlecht.

 

Eine Ablehnung gegenüber diesem Reisestil macht sich daher zunehmend in uns breit, denn diese Mentalität spricht gegen unsere Werte. Macht uns das jetzt viel besser? Nein. Höchstwahrscheinlich nicht. Aber wir sind bereit, einen neuen Blick auf dieses Thema zu werfen, auf unsere Einstellung zum Reisen ebenso wie auf unsere Privilegien. Mit dem Finger auf andere zu zeigen, wird uns nicht weiterbringen. Aber der Dialog und das Reflektieren über unser Denken und Verhalten kann uns alle zu besseren Reisenden und Mitmenschen machen.



Wenn ich mich zB darüber freue, dass die Produkte in einem Land viel billiger sind als daheim, dann kann ich mir sicher sein, dass sehr viele Menschen unter der hohen Inflation ihrer Währung leiden. Ich gewinne. Sie verlieren. Das muss uns immer klar sein. Warum ist es mir dann so wichtig, dass ich für meinen Einkauf genau so viel bezahle wie der Einheimische? Warum handel ich bis auf's Blut für umgerechnet 1 Euro? Warum werde ich wütend, wenn ich als Tourist abgezockt werde? Warum ärgere ich mich, wenn bettelnde Kinder unsere Haut sehen und annehmen, wir seien reich? Warum werden wir unhöflich gegenüber dem Taxifahrer, wenn er einen Touristenzuschlag verlangt? Warum reden wir abfällig über Menschen, die uns mit allen möglichen Mitteln und Angeboten das Geld aus der Tasche ziehen wollen?

 

Eigentlich haben wir kein Recht, uns aufzuregen. Wir sind reich genug, um uns diese Reise leisten zu können. Wir müssen nicht befürchten, dass wir zB im Iran wegen der 100%igen Inflation bei Lebensmitteln bald nichts mehr zu essen auf dem Tisch haben werden. Wir müssen uns auch (noch) keine ernsthaften Sorgen machen, dass Dürren oder Überschwemmungen unsere Lebensgrundlage bedrohen. Wir leben auch nicht in einem korrupten und unterdrückerischen Regime, das uns unsere Chancen auf ein besseres Leben vereitelt. Wenn wir die Möglichkeit haben, per Anhalter, Rucksack, Fahrrad oder Van um die Welt zu reisen, geht es uns wahnsinnig gut. Wir sind weltweit in der Minderheit. Dessen sollten wir uns immer bewusst sein. Im Reisealltag kann uns dieses Bewusstsein jedoch schnell abhanden kommen. Umso wichtiger ist es, sich diese Wahrheit immer wieder vor Augen zu führen und daher den Menschen mit Aufrichtigkeit, Respekt und Verständnis zu begegnen. 

 

Für uns bedeutet das auch, dass wir nicht jedes Geschenk annehmen müssen. In vielen muslimischen Ländern gehören zum Beispiel Gastfreundschaft und Höflichkeit zu den guten Sitten. Im Iran gibt es sogar einen Namen dafür: Taarof: Die Menschen sind es gewohnt, sich gegenseitig einzuladen oder zu beschenken. Am Anfang waren wir verwirrt darüber, wie oft uns die Leute abwinkten, wenn wir an Imbissbuden, in Cafés, in Taxis, in Supermärkten oder am Obststand bezahlen wollten. Wir haben uns damit noch nie wohl gefühlt, weil wir keine Extrawurst haben wollen, nur weil wir aus Deutschland kommen. Wir wollen so behandelt werden, wie die Einheimischen einander behandeln. Wir wollen das Land authentisch erleben und nicht verhätschelt werden. Mit der Zeit haben wir gelernt, dass es in diesen Ländern einfach zur Kultur gehört, sich einzuladen. Es gehört aber auch zur Kultur, "nein" zu sagen. Es ist wie ein Spiel, und am Ende zahlen die Leute immer noch ihre Rechnungen.

 

Also haben wir es einfach ausprobiert. Zuerst dachten wir, es würde die Leute verletzen, wenn wir ihre Geldeinladung an den Kassen nicht annehmen würden. Denn das ist oft das Narrativ der Reisenden - "ich würde die Person beleidigen", sagen sie. Aber in Wirklichkeit war das Gegenteil der Fall. Wir spielten das Spiel mit, sagten höflich und lächelnd mehrmals "nein" und 100 Mal "danke" und legten das Geld dann trotzdem auf den Tresen. Und siehe da, niemand war beleidigt. Stattdessen hat die Person gelacht, uns die Hand geschüttelt oder uns sogar umarmt. Denn wir nahmen uns die Zeit für ein Plausch, wir wertschätzten das Geschenk und die Person hat trotzdem das Geld bekommen, das sie für ihr Produkt oder ihre Dienstleistung verdient hat. Das ist für uns eine Win-Win-Situation. 

 

"Wir alle haben mehr ... von echter Begegnung."

Schließlich gibt es auch andere Möglichkeiten, Gastfreundschaft zu leben: zum Beispiel eine gute Zeit miteinander zu verbringen. Unter anderem können wir ein wenig in der Landessprache sprechen, gemeinsam eine Tasse Tee trinken, ein paar Selfies machen, uns auf Social Media verbinden und in manchen Fällen sogar mit nach Hause kommen und der Familie "Hallo" sagen. Neuerdings bieten wir den Menschen auch an, mit der guten Kamera ein paar schöne Porträt- oder Familienfotos zu machen und sie ihnen zu schicken. Wir alle haben mehr von einem echten Austausch, von echter Begegnung. Und wir persönlich fühlen uns dabei wohler, als wenn Fremde, die weniger haben als wir, unsere Taschen vollstopfen und unsere Geldbörsen entlasten.

 

Stattdessen fragen wir uns mittlerweile öfter: "Gibt es nicht einen anderen Weg? Mache ich es mir zu bequem? Nutze ich gerade meine Situation aus? Wie sind die lokalen Lebensbedingungen? Wo kann ich etwas zurückgeben, anstatt immer nur zu konsumieren? Habe ich genug Energie für einen Austausch? Was sind meine Erwartungen? Hand auf's Herz - Bin ich wirklich an der Begegnung interessiert oder bin ich nur hier, um satt zu werden und nebenbei eine nette Geschichte für meine Kanäle zu filmen?“


Wir sind alles andere als perfekt, doch wir merken, dass uns eine bewusstere Reisementalität immer besser gelingt.

 

Neu gelebter Kolonialismus

Manchmal haben wir das Gefühl, dass unter westlichen Langzeitreisenden bereits die Grunderwartung besteht, dass die Einheimischen sie mit offenen Armen empfangen und den Tisch für sie anrichten. Manche Äußerungen in den sozialen Medien widern uns sogar an und vermitteln uns den Eindruck eines neu gelebten Kolonialismus. Wir wollen nicht sagen, dass man überhaupt keine Einladungen mehr annehmen soll. Das wäre ja Blödsinn. Wenn man sich wirklich Zeit füreinander nimmt und aufrichtig interessiert ist, kann ein Besuch für beide Seiten auf immaterieller Ebene bereichernd sein. Ich würde mir nur von uns allen mehr Demut, Verzicht, Dankbarkeit und Bewusstsein für die eigenen Privilegien sowie die Ungleichheit auf diesem Globus wünschen.

 


Reisen ist nicht die Ernte harter Arbeit

“Reisen ist nicht die Ernte harter Arbeit, sondern Ausdruck eines Privilegs. Jeder der es genießt, sollte sich dessen zumindest bewusst sein und angesichts dessen ein bisschen mehr Demut an den Tag legen. Vor allem sollten wir dankbar sein. Dankbar, dass uns die Menschen überall auf der Welt willkommen heißen. Uns förmlich die Türen aufschlagen, während wir die unseren für sie bestenfalls nur einen Spalt weit öffnen. Danke, dass ihr den Nutznießern eines ungerechten Systems nicht mit Missgunst und Abneigung begegnet, sondern mit Gastfreundschaft und Herzlichkeit. Danke, dass ihr uns nicht die Köpfe einhaut, wenn wir mal wieder um Cent-Beträge feilschen, während wir anderswo mit Scheinen um uns werfen. Manchmal hätten wir einen kleinen Klaps mehr als verdient.” 

 

📺 Gehört im ganz tollen YouTube-Kanal “notizenvonunterwegs”, Folge “Das falsche Versprechen der Generation Weltreise | Reisedoku Ep. 12” (https://youtu.be/9H474-EmX3M?si=veqUlGMJTVHRjYVn)

 



"Die romantische Blase ist für uns geplatzt."


Wie man vielleicht merkt, radeln wir gerade mit Zweifeln. 

 

Wir stellen gerade viel in Frage - uns selbst, unsere Erwartungen, unser Verhalten, unsere Reisementalität. Low-Budget-Reisen wird online stark romantisiert. Und auch wir sind in diese Falle getappt und haben eine Sehnsucht entwickelt, die auf Halbwahrheiten auf YouTube, Netflix und in den sozialen Medien beruht. In wohlhabenderen Ländern wie Saudi-Arabien, Oman und den Emiraten ist es uns noch nicht in den Sinn gekommen, unseren Reisestil derartig zu hinterfragen. Doch seit wir durch Länder wie den Iran oder den Irak radeln und unsere Erfahrungen in Verbindung mit den Posts, Reels und YouTube-Videos anderer (Rad-)Reisender reflektieren, kommen wir nicht umhin, uns und die propagierte Romantik kritisch zu betrachten.

 

Wir haben keine endgültige Meinung, Lösung oder Antwort auf unsere eigenen Fragen und Kritikpunkte. Wie jedes andere menschliche Wesen sind wir auf dieser Welt, um zu lernen und uns weiterzuentwickeln. Sowohl für Joscha als auch für mich sind die Werte der Integrität, des Bewusstseins und der Bereitschaft zu lernen unglaublich wichtig. Wir verkörpern bei weitem kein Ideal und schämen uns im Nachhinein oft für unser Verhalten. Aber wir sehen kognitive Dissonanzen, Zweifel, Unbehagen als Chance zur Weiterentwicklung. Und eines ist für uns definitiv klar: Die romantische Blase ist für uns geplatzt und das ist gut so.

 

Wir waren auf diesem Blog von Anfang an ehrlich. Es war uns immer wichtig, nicht nur unsere äußere Reise mit zu teilen, sondern auch die innere Reise. Die äußere Reise ist in der Regel sehr unkomfortabel, doch die innere Reise bereitet uns meistens noch viel mehr Unbehagen und dennoch ist sie menschlich und gehört zu uns. Wir wollen euch an beiden Reisen teilhaben lassen. Vielleicht ist auch für euch etwas Wertvolles dabei. Wir wollen diese unangenehmen Gefühle und Gedanken, die wir gerade haben, auch gar nicht zum Schweigen bringen. Es ist gut, dass sie da sind und etwas mit uns machen. Auf dass wir in Zukunft bewusster reisen! :) 

 


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Kommentare: 1
  • #1

    Wunderline_und_mausepaul (Dienstag, 09 Januar 2024 23:30)

    Sehr gut d differenziert geschrieben. Danke schön. Habe ähnliche Gefühle